Am frühen Morgen des 19. September 2019 gelang es dem altgedienten Groß-Enzersdorfer Tierfotografen Kurt Kracher, nach wochenlangen Bemühungen in der Unteren Lobau endlich einen Hirsch zu fotografieren.
Noch vor wenigen Jahren wäre ein solches Foto keine besondere Meldung wert gewesen – die Lobau war voller Rotwild und zur Brunftzeit im Herbst hörte man die Hirsche von überall her röhren. Seit einiger Zeit ist das jedoch nicht mehr der Fall. Der Anblick eines Stücks Rotwild in der Wiener Lobau ist zu einem besonderen Ereignis geworden.
Wohin sind die Hirsche verschwunden und warum?
Die Österreichischen Bundesforste, die MA 49 – Forst- und Landwirtschaftsbetrieb der Stadt Wien und die Nationalpark GmbH haben vor kurzem die Fährten des Wildes verfolgt und das Nationalparkgebiet mit Wärmebildkameras befliegen lassen.
Das Ergebnis: In den Donau-Auen östlich von Wien sind zirka 1200 bis 1400 Stück Rotwild beheimatet.
In der Lobau, nördlich der Donau, lebten sie zur Zeit der Wärmebildüberwachung mit dem Flugzeug in einer Dichte von sechs bis sieben Stück pro hundert Hektar. Am gegenüberliegenden Ufer bei Fischamend hingegen in einer absurd hohen, den Wald schädigenden Dichte von mehr als 40 (!) Stück pro hundert Hektar.
Das Rotwild hat also die Lobau verlassen und ist über die Donau nach Fischamend geschwommen.
Das hat mehrere Gründe: Zum einen wird – um lokal überhöhte Wildstände zu vermeiden und die Vegetation zu schützen – im Wiener Teil des Nationalparks seit Winter 2014-2015 nicht mehr gefüttert, zum anderen wird im Gegensatz dazu in einem Jagdpachtrevier in Fischamend seit etlichen Jahren massiv gefüttert.
Das Rotwild ist demnach über die Donau gewechselt, weil es am anderen Ufer bequem verfügbares, nahrhaftes Futter in rauen Mengen vorgesetzt bekommt. Abgesehen von der durchaus diskutablen Gesamtzahl des in den Donau-Auen östlich von Wien lebenden Rotwildes, ist sichtlich die Ausgewogenheit in der Verteilung verloren gegangen.
Was für das Verschwinden der Hirsche in der Lobau ebenfalls eine Rolle spielen könnte, ist der zunehmende Stress durch undisziplinierte Nationalpark-Besuche, freilaufende Hunde und fortwährende Bauarbeiten. Wissenschaftler betonen, dass die soziale und ökologische Tragfähigkeit der Oberen Lobau bereits am Limit zu sein scheint. Sie dürfte mittlerweile von mehr als 1 Million Menschen pro Jahr besucht werden. Auch die Untere Lobau gerät zusehends unter Besucherdruck.
Das große Problem für das Wild sind Leute, die sich nicht um das Gesetz scheren, sondern die gekennzeichneten Wege verlassen. Eine Untersuchung hat ergeben, dass Lobauhirsche nur sehr kleine Streifgebiete haben, mit den Menschen aber bisher recht gut umgehen konnten. Weder wiederkehrendes großräumiges Ausweichen noch häufiges Fluchtverhalten konnte festgestellt werden. Die Schlussfolgerung daraus: Die Tiere wissen genau, auf welchen Wegen sich Nationalparkbesucher aufhalten und sie berücksichtigen das in ihrem Tagesablauf.
Wer die erlaubten Wege verlässt, sei es zu Fuß, mit dem Mountain Bike oder gar mit einem Hund, trägt somit zweifellos dazu bei, dass die Wildtiere häufig flüchten müssen und schließlich abwandern.
Laut einer Studie haben etwa zehn Prozent aller Lobau-Besucher Hunde dabei. Obwohl Hunde ausschließlich angeleint mitgeführt werden dürfen, wird dies nur von jedem dritten Hundehalter beachtet. In Wien wird dem mit regelmäßigen Kontrollen durch die Förster sowie mit Schwerpunktaktionen in Zusammenarbeit mit der Polizei begegnet, die zu Strafgeldern zwischen 20 und 360 Euro € führen können.
Und noch ein weiterer Grund könnte für das Verschwinden der Hirsche ausschlaggebend sein, vermutet zumindest Naturfotograf Kurt Kracher: Die Lobau trocknet aus. Die für das Rotwild essentiellen, versteckten Suhlen zum Schlammbaden verschwinden allmählich und die guten, sicheren, unzugänglichen Einstände im Schilf, in die sich die Hirsche bevorzugt zurückziehen, werden ebenso immer weniger.
Aus Gewässern wird Schilf, aus Schilf wird trockener Boden, aus der Lobau wird ein Stadtpark. Das widerspricht zwar den Zielen des Nationalparks, die Wiener Politik scheint jedoch trotz dutzender Alarmrufe kein Interesse zu haben, dagegen etwas zu unternehmen.
Quellen:
- Böhm, Josephin (2016): Grundlagen für die Optimierung des Wildmanagements im Nationalpark Donau-Auen – Ein Vergleich verschiedener Schutzgebiete unter besonderer Berücksichtigung des Managements von Wildruhegebieten, Masterarbeit am Institut für Wildbiologie und Jagdwirtschaft, Universität für Bodenkultur, Wien
- Kovacs, Franz Josef (2019): Ergebnisse der Infrarot-Befliegungen zur Ermittlung der Wildtierbestände in den Donau-Auen östlich von Wien. Vortrag im Rahmen der Forschungsabende im Nationalparkhaus Wien-Lobau am 11. März 2019