Wien pfeift auf den furzenden Wetterfisch

Es gibt Tiere, die drollige Namen haben, die kaum jemand kennt, die nur wenige mit eigenen Augen gesehen haben und die dennoch zu den bestgehüteten Juwelen unserer Fauna zählen.

Eines dieser Juwele ist der Schlammpeitzger oder Schlammbeisser, ein kleiner, schlanker Fisch, dem kein Angler nachstellt und der wegen seines scheinbar kümmerlichen Daseins und seines Namens gemeinhin spöttisch belächelt wird.

Kupferstich von AF Schmidt, etwa 1750 (aus Fusko, 1987)

Der Schlammpeitzger (Misgurnus fossilis) lebt im Schlamm ruhiger Gewässer.

Ist zu wenig Sauerstoff im Wasser, schluckt er Luft, veratmet sie im gut durchbluteten Darm und scheidet sie hinten wieder aus (er furzt).

Auf diese Weise kann er – vergraben im Schlamm – das zeitweilige Austrocknen seines Wohngewässers überstehen.

Weil der Schlammpeitzger imstande ist, Luftdruckschwankungen (!) wahrzunehmen, zeigt er sich bei Herannahen eines Gewitters besonders unruhig und aktiv. Im Volksmund brachte ihm das den Namen „Wetterfisch“ ein.

In Wien gibt es den furzenden Wetterfisch nur noch in der Lobau. Er ist im Wiener Teil des Nationalparks Donau-Auen eine von nur drei Fischarten, die im Anhang II der europäischen Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie angeführt werden – als streng zu schützende Arten von gemeinschaftlichem Interesse. 

Im Wiener Nationalparkgesetz heißt es unmissverständlich, eines der Ziele des Nationalparks sei es, die Arten des Anhanges II der Fauna-Flora-Habitat–Richtlinie zu erhalten und zu fördern.

In der Wiener Naturschutzverordnung ist der Schlammpeitzger eine von nur zwei Fischarten, die als „prioritär bedeutend“ eingestuft werden und für die gemäß § 15 Wiener Naturschutzgesetz ein Arten- und Biotop-Schutzprogramm erstellt werden muss.

Brehms Tierleben Band 3, 1902 (aus Fusko 1987)

In den Roten Listen der gefährdeten Tierarten Österreichs wird der Schlammpeitzger als „stark gefährdet“ ausgewiesen.

Die Gesetzeslage ist also eindeutig. Der Haken daran: Wien hält sich nicht daran. Die Stadt pfeift auf den Schlammpeitzger.

Im 1998 veröffentlichten „Monitoringkonzept Nationalpark Donau-Auen“ wird festgehalten, dass Untersuchungen zum Fortpflanzungserfolg der Schlammpeitzger jährlich erfolgen sollten und eine Erhebung der adulten Fische in zweijährigen Abständen.

Das hat jedoch in Wien niemand gekümmert. Es gab und gibt im Wiener Teil des Nationalparks Donau-Auen bis heute kein Monitoring. Es gab und gibt für die Schlammpeitzger auch kein Biotop-Schutzprogramm.

Die Ausrede, dass dafür ja der Nationalpark zuständig wäre, gilt nicht. Die Einhaltung der europäischen Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie obliegt dem Land – und die Einhaltung des eigenen Naturschutzgesetzes sowieso.

Was man über das Vorkommen des Schlammpeitzgers in der Wiener Lobau weiß, hat durchwegs historischen Charakter:

  • Vor 38 Jahren erfolgte in der Unteren Lobau die letzte spezielle Bestandsaufnahme (1985-86)
  • Vor 35 Jahren erfolgte in der Oberen Lobau die letzte spezielle Bestandsaufnahme (1988-89)
  • Vor 25 Jahren und zuletzt vor zwölf Jahren wurden in der Unteren Lobau bei allgemeinen Fisch-Bestandsaufnahmen in kleinen, isolierten Nebengewässern Schlammpeitzger festgestellt (1999 und 2012)

Demgegenüber steht die durch Austrocknung und Verlandung bedingte, rasante Degradierung der Landschaft:

aus Fusko 1990

Gerade die kleinen Gewässer, in denen die Schlammpeitzger leben, verlanden mit einer Rate von 3,5 % pro Jahr. Die Fische verlieren also jedes Jahr deutlich an Lebensraum. Ein Trend, der sich beschleunigt. Es hatte einen guten Grund, warum die Wissenschaftler 1998 forderten, die Bestände alle zwei Jahre zu erheben.

Auf die Frage „Wo leben denn eigentlich heute in der Lobau noch Schlammpeitzger?“ können deshalb nur Mutmaßungen angestellt werden.

Der einzige, in den vergangenen zwölf Jahren dokumentierte Nachweis stammt aus dem Jahr 2021. Der Fisch ging Wissenschaftlern des Naturhistorischen Museums Wien im sogenannten Schwarzen Loch bei der Suche nach Muscheln und Schnecken zufällig ins Netz.

Zur Erinnerung: Es geht um einen stark gefährdeten Fisch in einem Nationalpark, der unter besonderem europäischem Schutz steht und obendrein im Landes-Naturschutzgesetz besonders hervorgehoben wird. Und niemand weiß, wo es ihn aktuell noch überall gibt.

1985/86 registrierte Funde im Eberschüttwasser und im Kühwörtherwasser konnten seitdem nicht mehr bestätigt werden. Also sind die Fische dort mittlerweile ausgestorben … oder es hat seitdem niemand mehr genau nachgesehen. Naturschutzgesetz und Nationalpark scheinen die Stadt also nicht intensiv zu beschäftigen.

Die immer häufigere, komplette Austrocknung der Gewässer in der Unteren Lobau verschärft die Situation. Schlammpeitzger können zwar im Schlamm Trockenheit und harte Winter überstehen, aber auch dieser Fähigkeit sind Grenzen gesetzt:

Lausgrundwasser, Jänner 2017 (Foto: Kurt Kracher)

Als im Nationalpark im Winter 2016-2017 an der Mühlleitner Furt eine Großbaustelle eingerichtet wird, um zwei unterirdisch verlaufende Gasleitungen zu sanieren, wird zum Schutz der Erdarbeiten die stetige Einleitung des Überschusswassers aus dem Wasserwerk Lobau in den Lausgrund gestoppt. Ergebnis: Der Lausgrund, ein Lebensraum des Schlammpeitzgers, trocknet völlig aus und der Gewässergrund friert durch. In der Folge durchpflügen Wildschweinrotten den Boden mit ihren Rüsseln auf der Suche nach Fressbarem. Haben die Schlammpeitzger diese Extremsituation überlebt? Gibt es heute im Lausgrund überhaupt noch Schlammpeitzger? Darum hat sich – Gesetze hin oder her – in den vergangenen sieben Jahren niemand gekümmert.

Manche Sachen lassen sich nicht erfinden:

2019 wird eine detaillierte Erhebung der FFH-Fischarten für das gesamte Stadtgebiet veröffentlicht. Der Schlammpeitzger gilt demnach in Wien als verschollen bzw. ausgestorben.

Allerdings, und das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen, war die Lobau von dieser Erhebung ausgenommen (!).

Kein Zweifel: Wien ist anders.

Besonders kurios: Im gemäß der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie obligatorischen, jüngsten Bericht Österreichs an die EU (Zeitraum 2013 – 2018) wird in der Liste der Bundesländer, in denen Schlammpeitzger leben, Wien nicht mehr angeführt.

Screenshot ORF Aktueller Dienst 1988

Die Stadt Wien meldet also der EU, dass in Wien keine Schlammpeitzger vorkommen würden, womit es praktischerweise auch keine Verpflichtungen gibt, sich um sie zu kümmern. Die Lobau wird listigerweise in diesem Zusammenhang nicht als Teil von Wien (!) betrachtet.

Der Bericht an die EU, der darlegt, dass es in Wien keine Schlammpeitzger gäbe, hat übrigens den Untertitel „Monitoring-Ergebnisse“.

Was die Lobau betrifft, stellt sich die Frage: welches Monitoring???

Dass der Schlammpeitzger mit seinen besonderen Fähigkeiten nicht einfach ein Fisch unter anderen ist, zeigt auch eine Anekdote vom 9. November 1988, die sich bei der Feier zum 85. Geburtstag von Nobelpreisträger Konrad Lorenz zugetragen hat.

Der Wildbiologe Antal Festetics wollte an jenem Tag seinem hochbetagten Mentor eine spezielle Freude bereiten und tauchte in Lorenz‘ Villa in Altenberg an der Donau mit einem wassergefüllten Fischbehälter auf.

Es entwickelte sich folgender Dialog:

Festetics
Also, wir waren gestern in der Au, um Dir auch ein Wildtier mitzubringen. Ein Tier, das im November mit der Hand zu fangen ist. Das ist jetzt die Prüfungsfrage: Was kann es sein? Ich mach’s einmal auf. Und da kann man‘s hochheben. Wir halten es drunter.

Lorenz
Schlammbeisser!

Festetics
Richtig: Eins! Der lateinische Name, Konrad?

Lorenz
Misgurnus.

Festetics
Noch eine Eins! Du hast mich vor dreißig Jahren geprüft mit dem gleichen Fisch. Ich hab’s damals leider nicht gewusst.

 

Titelfoto:
Abb. 67 aus “Erhebung der Fischfauna in der Unteren Lobau 2012”

Quellen:

  • Fusko, M. (1987): Zur Biologie des Schlammpeitzgers (Misgurnus fossilis) unter besonderer Berücksichtigung der Darmatmung. Doktorarbeit, Universität Wien, 172 Seiten.
  • Christ, M. (1988): Abschrift der Statements aus dem bei der Geburtstagsfeier von Konrad Lorenz am 9.11.1988 in Altenberg/Greifenstein (NÖ) aufgezeichneten Video-Rohmaterial des ORF (unveröffentl.)
  • Fusko, M. (1990): Bestandsaufnahme standorttypischer Fische: Vorkommen des Schlammpeitzgers. In: Projekt Dotation Lobau. Abschnitt Obere Lobau. Wasserwirtschaftlicher Versuch. Begleitendes ökologisches Versuchsprogramm. Im Auftrag der Magistratsabt. 45 – Wasserbau
  • Reckendorfer, W., Heiler, G., Hein, T., Keckeis, H., Lazowski, W. & P. Zulka (1998): Zoologisches Monitoring. Aquatischer Bereich. Fische. In: Monitoringkonzept Nationalpark Donau-Auen, im Auftrag von Nationalpark Donau-Auen GmbH.
  • Waidbacher, H., Straif, M., Drexler, S. (2005): Erhebung und Einschätzung des Erhaltungszustandes der in Anhang II und V der FFH-Richtlinie genannten und in Wien vorkommenden und geschützten Fischarten. Im Auftrag der Magistratsabt. 45 – Wasserbau, 54 Seiten.
  • Wiesner, C. (2008): Fischbestandserhebung in der Dechant- und Peleskalacke. Im Auftrag der Nationalpark Donau-Auen GmbH.
  • Schabuss, M., Zornig, H. (2013): Erhebung der Fischfauna in der Unteren Lobau 2012. In: Gewässervernetzung (Neue) Donau – Untere Lobau (Nationalpark Donau-Auen).  Im Auftrag der Magistratsabt. 45 – Wiener Gewässer, 82 Seiten.
  • Schauer, M., Ratschan, C., Wanzenböck, J., Gumpinger, C., Zauner, G. (2013): Der Schlammpeitzger (Misgurnus fossilis) in Oberösterreich. In: Österreichs Fischerei, Jg. 66, Seiten 54-70
  • Spindler, T. (2019): FFH-Fischarten in Wien. Erhebung und Einschätzung des Erhaltungszustands der in Anhang II, IV und V der FFH-Richtlinie genannten und in Wien vorkommenden und geschützten Fischarten, 2018/2019. Im Auftrag der Magistratsabt. 22 – Umweltschutz, 93 Seiten.
  • Ellmauer, T., Igel, V., Kudrnovsky, H., Moser, D. & Paternoster, D. (2019): Monitoring von Lebensraumtypen und Arten von gemeinschaftlicher Bedeutung in Österreich 2016–2018 und Grundlagenerstellung für den Bericht gemäß Artikel17 der FFH-Richtlinie im Jahr 2019: Teil 1: Artikel 11-Monitoring. Umweltbundesamt GmbH, im Auftrag der österreichischen Bundesländer, Wien.
  • Kirchner S., Schindelar, J., Sittenthaler, M., Christ, M., Zangl, L., Sattmann, H., Fischer, I., Schubert, Hannah C., Haring, E. (2023): Occurrence of the European weatherfish Misgurnus fossilis in the Danube floodplains of the Lobau in Vienna, Austria. In: Acta ZooBot Austria” – 159: 155 – 162

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