Wien/Untere Lobau: Klarer Verstoß gegen Naturschutzrecht

Mit dem Unterlassen wirksamer Maßnahmen gegen die Verlandung der Unteren Lobau verstößt die Stadt Wien offenbar gegen das Naturschutzrecht auf nationaler und EU-Ebene, insbesondere gegen die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (FFH). Sogar der laufende Betrieb des Grundwasserwerks Lobau ohne Aufbereitungsanlage dürfte FFH-widrig sein.

Kann es in Einklang mit dem Naturschutzrecht stehen, wenn die Stadt Wien praktisch tatenlos dem Austrocknen und der Verlandung der Unteren Lobau zusieht, Teil des Nationalparks Donau-Auen, international bedeutendes Feuchtgebiet nach der Ramsar-Konvention sowie Natura-2000- und Europaschutzgebiet gemäß der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie (FFH) und der Vogelschutzrichtlinie der EU?

Hinweis: Dieser Artikel ist eine weitgehend überarbeitete und inhaltlich bereinigte Version des Beitrags Wien und die Lobau: Rechtsverstöße und Zwickmühlen.
Foto oben: Eberschüttwasser, Oktober 2019. Schilfgürtel und Seerosen als typische Verlandungssymptome.

Wenn ja, wäre das doch sehr verwunderlich.

Tatsächlich liegt jedoch die Unzulässigkeit eines solchen Nichtstuns klar auf der Hand. Es ist unvereinbar mit dem Naturschutzrecht auf Ebene der Europäischen Union, insbesondere mit dem Verschlechterungsverbot in Art. 6 der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (FFH) und den diesbezüglichen Entscheidungen des Europäischen Gerichthofs (EuGH). Ebenso unvereinbar ist es mit beinahe allen relevanten österreichischen Rechtsnormen, was insofern keine Überraschung ist, als das österreichische Naturschutzrecht nach dem EU-Beitritt Österreichs an das EU-Naturschutzrecht angepasst werden musste.

Überraschend mag allenfalls sein, dass auch der Betrieb des Grundwasserwerks Lobau (GWW Lobau) in der Unteren Lobau, mit dessen unverzichtbarem Beitrag zur Trinkwasserversorgung die Stadt Wien ihr Nichtstun rechtfertigt, nicht mit dem Verschlechterungsverbot der FFH in Einklang steht. Auch dies geht aus einschlägigen Entscheidungen des EuGH hervor: Danach sind auch laufende, bereits genehmigte Aktivitäten in einem Schutzgebiet zu ändern oder zu verbieten, falls sie die Einhaltung der Naturschutzvorgaben wesentlich beeinträchtigen. Dies ist aber beim GWW Lobau unstrittig der Fall, da es nur über eine Desinfektionsanlage verfügt. Dadurch werden sämtliche effektiven Erhaltungsmaßnahmen für die Untere Lobau (die naturnähere Hälfte des Schutzgebiets) verunmöglicht, und auch von der FFH vorgesehene Ausnahmegenehmigungen sind in einem solchen Fall undenkbar, wie nachstehend unter “Grundwasserwerk Lobau” erläutert.

Verstoß gegen das Verschlechterungsverbot der FFH

Die FFH-Richtline beinhaltet einen Passus, der als “Verschlechterungsverbot” bekannt ist. Laut Artikel 6 FFH haben die Mitgliedsstaaten nicht nur die „nötigen Erhaltungsmaßnahmen“ festzulegen, die „den ökologischen Erfordernissen der natürlichen Lebensraumtypen nach Anhang I und der Arten nach Anhang II entsprechen, die in diesen Gebieten vorkommen“ (Absatz 1), sondern auch die „geeigneten Maßnahmen“ zu treffen, „um in den besonderen Schutzgebieten die Verschlechterung der natürlichen Lebensräume und der Habitate der Arten sowie Störungen von Arten, für die die Gebiete ausgewiesen worden sind, zu vermeiden, sofern solche Störungen sich im Hinblick auf die Ziele dieser Richtlinie erheblich auswirken könnten“ (Absatz 2). FFH-Richtlinie, deutsch (pdf)

Gemäß Art. 6 (2) müsste Österreich also Maßnahmen zur Vermeidung einer “Verschlechterung der natürlichen Lebensräume” etc. im Nationalpark Donau-Auen ergreifen.

Diese Verpflichtung wird in einem Guidance-Dokument der EU-Kommission zur Auslegung von Art. 6 FFH weiter präzisiert („Vermerk der Kommission Natura 2000 – Gebietsmanagement. Die Vorgaben des Artikels 6 der Habitat-Richtlinie 92/43/EWG“, Downloadseite: Die Vorgaben des Artikels 6 der Habitat-Richtlinie 92/43/EWG).

Diesem Dokument nach haben die Mitgliedsstaaten „keinen Ermessensspielraum, was die Umsetzung der erforderlichen Erhaltungsmaßnahmen betrifft“. „Die Mitgliedstaaten müssen geeignete Schutzmaßnahmen treffen, um die ökologischen Merkmale von Natura-2000-Gebieten ab dem Zeitpunkt zu erhalten, zu dem die Gebiete als Gebiete von gemeinschaftlichem Interesse eingestuft wurden.“ (S. 35)

Auch nachteilige “natürliche Entwicklungen” sind zu unterbinden

Als Mindestziel gibt die FFH also vor, jede Verschlechterung der ökologischen Merkmale eines Schutzgebiets ab dem Zeitpunkt der Unterschutzstellung zu verhindern. Diese Verpflichtung wird durch eine Entscheidung des EuGH aus dem Jahr 2005 präzisiert, auf die in dem zuvor erwähnten Guidance-Dokument der Kommission verwiesen wird (auf Seite 30). Der EuGH stellt darin klar, dass das „Verschlechterungsverbot“ nicht nur für menschliche Tätigkeiten gilt, sondern sich auch auf nachteilige natürliche Entwicklungen erstreckt. In der Rechtssache C-6/04, Rn. 34 zitiert der Gerichtshof in seiner Urteilsbegründung die Generalanwältin (J. Kokott) mit der Feststellung:

„… kann es für die Umsetzung von Artikel 6 Absatz 2 der Richtlinie offenkundig erforderlich sein, sowohl Abwehrmaßnahmen gegenüber externen, vom Menschen verursachten Beeinträchtigungen und Störungen als auch Maßnahmen zu ergreifen, um natürliche Entwicklungen zu unterbinden, die den Erhaltungszustand von Arten und Lebensräumen in den besonderen Schutzgebieten verschlechtern können“. Urteil des Gerichtshofs online (pdf)

Demzufolge müssen also auch geeignete Maßnahmen ergriffen werden, um “natürliche Entwicklungen” zu unterbinden, widrigenfalls würde Artikel 6 (2) FHH verletzt. (Hier ist kurz anzumerken, dass die Stadt Wien im Widerspruch dazu behauptet, dass den Verpflichtungen aus der FFH-Richtlinie bloß durch die Verhinderung menschlicher nachteiliger Eingriffe Genüge getan wäre, siehe Natura 2000 – Verpflichtungen der EU-Naturschutz-Richtlinien und deren Umsetzung in Wien.)

Es dürfte unstrittig sein, dass es sich beim Austrocknen und der Verlandung der Lobau um eine solche nachteilige “natürliche Entwicklung” handelt, auch wenn sie letztlich auf menschliche Eingriffe zurückgeht (die Donauregulierung im 19. Jahrhundert, mit der das Gebiet vom Hauptstrom abgetrennt wurde). In einem FAQ-Dokument der EU-Kommission, das nur mehr im Webarchiv aufzufinden ist, wird sogar ausdrücklich auf Probleme wie in der Unteren Lobau verwiesen:

“Wenn beispielsweise eine natürliche Sukzession in halbnatürlichen Lebensraumtypen nachteilige Auswirkungen auf die Arten oder Lebensraumtypen haben kann, derentwegen das Gebiet ausgewiesen worden ist, müssten Maßnahmen getroffen werden, um den Prozess aufzuhalten (EuGH, Rechtssache C-06/04).” Link: Was bedeutet das Verschlechterungsverbot für ein Gebiet in der Praxis? (Webarchiv)

Welche Maßnahmen sind erforderlich, um die “natürlichen Entwicklungen” (Verlandung), die zu einer fortschreitenden Verschlechterung des Erhaltungsgrads der Lebensräume und Arten in der Unteren Lobau führen, zu stoppen oder zumindest zu bremsen? Hinweise darauf lassen sich dem Endbericht einer von der Stadt Wien in Auftrag gegebenen Studie entnehmen, die dem Autor vorliegt: Magistrat der Stadt Wien, Magistratsabteilung 45 – Wiener Gewässer: Gewässervernetzung (Neue) Donau – Untere Lobau (Nationalpark Donau-Auen). Endbericht, Juni 2015 (unveröffentlicht).

In dieser Studie wurden die Auswirkungen dreier Dotationsvarianten mit unterschiedlichen Wassermengen aus der Neuen Donau bzw. der Donau auf die Untere Lobau untersucht. Es reicht hier, sich auf die Variante mit den höchsten Dotationsmengen zu beschränken: eine Dotation direkt aus der Donau mit bis zu 80 m³/s (in Abhängigkeit vom Donaupegel). Dazu heißt es in Abschnitt 1.3.3. der Studie (S. 9): “Allerdings ist nur mit einer Dotation aus der Donau mit 20 m³/s bis 80 m³/s eine nennenswerte Dynamisierung zu erreichen. Trotz Verlangsamung des Verlandungsprozesses reichen jedoch auch diese Wassermengen zur nachhaltigen Reduktion der fortschreitenden Verlandung nicht aus.”

Es ergibt sich aus dem Obigen von selbst, dass das Nein der Stadt Wien zu allen Wasserzufuhren in die Untere Lobau als klarer Verstoß gegen die FFH zu bewerten ist. Ob sich dieser Verstoß mit der gebotenen Sicherstellung der Trinkwasserversorgung Wiens begründen bzw. rechtfertigen lässt, wie die Stadt behauptet, wird im Abschnitt zum Grundwasserwerk Lobau behandelt. Zunächst aber ein Blick auf die relevanten Naturschutzbestimmungen in Österreich.

Österreichisches Recht

Die FFH und die Vogelschutzrichtlinie sind Teil des EU-Rechtsbestands, der nach dem Beitritt Österreichs zu übernehmen war; im Fall der beiden Naturschutzrichtlinien mussten die Bestimmungen in Landesrecht umgesetzt werden, da Naturschutz laut österreichischer Verfassung Landeskompetenz ist. (Art. 15 Bundesverfassungsgesetz Absatz 1, sogenannte Generalklausel: “Soweit eine Angelegenheit nicht ausdrücklich durch die Bundesverfassung der Gesetzgebung oder auch der Vollziehung des Bundes übertragen ist, verbleibt sie im selbständigen Wirkungsbereich der Länder.”) In Wien erfolgte die Umsetzung durch Änderung bzw. Erlassung der folgenden Rechtsnormen: Wiener Naturschutzgesetz, Wiener Naturschutzverordnung, Wiener Nationalparkgesetz, Wiener Nationalparkverordnung bzw. Europaschutzgebietsverordnung.

Es ist daher nicht überraschend, dass die Stadt Wien mit der Verweigerung von Erhaltungsmaßnahmen für die Untere Lobau auch gegen österreichische Naturschutzbestimmungen verstößt. (Mit möglichen Lücken oder Fehlern bei der Umsetzung der EU-Richtlinien in Landesrecht habe ich mich hier nicht befasst, denn im Zweifel gelten der Text der Richtlinie sowie einschlägige Entscheidungen des EU-Gerichtshofs.)

Verstoß gegen Bund-Länder-Vereinbarung gemäß § 15a BVG
Bereits die Vereinbarung gemäß § 15a Bundesverfassungsgesetz zwischen dem Bund und den Ländern Niederösterreich und Wien zur Errichtung und Erhaltung eines Nationalparks Donau-Auen (1996) ist betroffen. Denn in Artikel III (Zielsetzung), Abs. 1, Ziffer 3 wird als Ziel festgehalten, “die für dieses Gebiet repräsentativen Landschaftstypen sowie die Tier- und Pflanzenwelt einschließlich ihrer Lebensräume zu bewahren”. Dies ist ohne wirksame Maßnahmen gegen die Verlandung nicht möglich.

Wiener Naturschutzgesetz
In § 22 Abs. 1 wird bestimmt, dass Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung im Sinne der Fauna-Flora-Habitat–Richtlinie und Gebiete zur Erhaltung wild lebender Vogelarten im Sinne der Vogelschutz–Richtlinie “durch Verordnung” zu Europaschutzgebieten zu erklären sind. Diese Verordnungen müssen auch die zur Erreichung des Schutzzwecks notwendigen “Pflege- und Entwicklungsmaßnahmen” enthalten:

§ 22 Europaschutzgebiete, Absatz 4: “Die Verordnung nach Abs. 1 hat die flächenmäßige Begrenzung, den jeweiligen Schutzgegenstand und Schutzzweck sowie die zur Erreichung des Schutzzweckes notwendigen Gebote, Verbote, Pflege- und Entwicklungsmaßnahmen zu enthalten.”

In der Europaschutzgebietsverordnung fehlen aber diese Angaben für den Nationalpark Donau-Auen – dabei handelt es sich m. E. um eine legistische Schlamperei, siehe nachfolgend.

Ein möglicher Verstoß gegen das Naturschutzgesetz liegt insofern vor, als in § 22 Abs 4 festgelegt wird, dass nur Nutzungen zugelassen werden können, die die “Bewahrung, Entwicklung oder Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustandes der in diesem Gebiet vorkommenden Biotope oder Tier- und Pflanzenarten von gemeinschaftlicher Bedeutung nicht wesentlich beeinträchtigen”. Die Nutzung insbesondere der Unteren Lobau zur Trinkwasserversorgung der Stadt durch das GWW Lobau nur mit Desinfektionsanlage verunmöglicht alle effektiven Erhaltungsmaßnahmen und ist gemäß dieser Bestimmung unzulässig. Mehr dazu im Abschnitt “Betrieb des Grundwasserwerks Lobau offensichtlich FFH-widrig”.

Wiener Naturschutzverordnung
In § 7, Lebensraumschutz (Schutz der Habitate) werden alle Lebensräume streng geschützter oder geschützter Arten aufgelistet, die zu schützen sind, darunter alle solche Lebensräume im Nationalpark Donau-Auen.

Selbstredend ist es ein Verstoß gegen diese Verordnung, wenn Wien nichts unternimmt, um diese von der fortschreitenden Verlandung bedrohten Lebensräume der Unteren Lobau zu schützen.

Wiener Nationalparkgesetz
In § 1 sind die Ziele des Gesetzes festgehalten, darunter in Abs. 1 Ziffer 4 das folgende: “den Wasserhaushalt des Auenökosystems zu schützen und zu verbessern, sowie den Grundwasserkörper als Reserve an hochwertigem Trinkwasser für Zeiten des Wassermangels zu sichern”.

Tatsächlich dürften die von Wien seit vielen Jahren durchgeführten, auf die Obere Lobau beschränkten Wasserzufuhren (Dotationen) auch den Grundwasserspiegel in unmittelbar angrenzenden Bereichen der Unteren Lobau positiv beeinflussen. Dabei handelt es sich aber um geringfügige Effekte, denen außerdem die negativen Auswirkungen der Grundwasserförderung in der Unteren Lobau gegenüberstehen (siehe Abschnitt “Allgemeine Auswirkungen des GWW Lobau” unten). Ein nachhaltiger Schutz des Wasserhaushalts des Auenökosystems und umso mehr seine Verbesserung sind jedoch nur möglich, wenn geeignete Maßnahmen gesetzt werden, um die Verlandung insbesondere der Unteren Lobau zu stoppen. Das Unterlassen solcher Maßnahmen steht daher nicht mit dem Wiener Nationalparkgesetz in Einklang.

Wiener Nationalparkverordnung
Die Nationalparkverordnung definiert in § 2 bzw. § 3 die Ziele für die “Naturzone” bzw. für die “Naturzone mit Managementmaßnahmen” des Nationalparks Donau-Auen (Wiener Teil), darunter “die Erhaltung der natürlichen und naturnahen Gewässer und ihrer Verlandungsgesellschaften” (Naturzone) und “die Erhaltung und Förderung der natürlichen bis naturnahen Entwicklung der Gewässer und ihrer Verlandungsgesellschaften” (Naturzone mit Managementmaßnahmen).

Außerdem sind in der Nationalparkverordnung die “zur Erreichung des Schutzzwecks notwendigen” Pflege- und Entwicklungsmaßnahmen ansatzweise definiert, was gemäß Wiener Naturschutzgesetz eigentlich in der Europaschutzgebietsverordnung festzulegen wäre, siehe nachstehend. Kurz und bündig heißt es in der Nationalparkverordnung bloß dazu: “Der Erreichung dieser Zielsetzungen dient die Förderung der Vernetzung der Gewässer und der Hintanhaltung der Verlandungstendenz.

Die Untätigkeit Wiens in der Unteren Lobau steht zweifellos nicht in Einklang mit der Nationalparkverordnung.

Europaschutzgebietsverordnung
Zweck der Europaschutzgebietsverordnung ist laut § 2 die “Erhaltung oder Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustandes der in der Anlage näher bezeichneten Schutzgüter der Fauna-Flora-Habitat – Richtlinie und der Vogelschutz – Richtlinie”. Die Auswahl und Erklärung geeigneter Gebiete zu Europaschutzgebieten soll dazu beitragen.

Das ist aber nur möglich, wenn sich der Erhaltungszustand (auf Schutzgebietebene als “Erhaltungsgrad” – “degree of conservation” – bezeichnet) von Lebensräumen und Arten in den einzelnen Schutzgebieten nicht verschlechtert. Da die Stadt Wien keine effektiven Maßnahmen zur Vermeidung einer Verschlechterung des Erhaltungsgrads insbesondere der aquatischen Lebensräume und der auf sie angewiesenen Arten in der Unteren Lobau ergreift, liegt daher auch ein Verstoß gegen die Europaschutzgebietsverordnung vor.

Dass die Europaschutzgebietsverordnung entgegen der Vorgabe aus dem Wiener Naturschutzgesetz keine spezifischen Schutzbestimmungen für den Nationalpark Donau-Auen enthält (“die zur Erreichung des Schutzzweckes notwendigen Gebote, Verbote, Pflege- und Entwicklungsmaßnahmen”), ist wohl eine legistische Schlamperei. Hier fehlt zumindest ein Verweis auf jene Rechtsnorm, die die fehlenden Bestimmungen beinhaltet, nämlich die zuvor besprochene Nationalparkverordnung.

“Günstiger Erhaltungszustand” gemäß FFH
Was unter einem “günstigen Erhaltungszustand” eines Lebensraumtyps/Biotops bzw. einer Art zu verstehen ist, lässt sich Artikel 1 FFH, Begriffsbestimmungen, Buchstaben (e) und (i) entnehmen, wobei Lebensräume und die für sie “charakteristischen” Arten verknüpft sind.

(e) Der „Erhaltungszustand“ eines natürlichen Lebensraums wird als „günstig“ erachtet, wenn
— sein natürliches Verbreitungsgebiet sowie die Flächen, die er in diesem Gebiet einnimmt, beständig sind oder sich ausdehnen und
— die für seinen langfristigen Fortbestand notwendige Struktur und spezifischen Funktionen bestehen und in absehbarer Zukunft wahrscheinlich weiterbestehen werden und
— der Erhaltungszustand der für ihn charakteristischen Arten im Sinne des Buchstabens i) günstig ist.

(i) Der Erhaltungszustand wird als „günstig“ betrachtet, wenn
— aufgrund der Daten über die Populationsdynamik der Art anzunehmen ist, daß diese Art ein lebensfähiges Element des natürlichen Lebensraumes, dem sie angehört, bildet und langfristig weiterhin bilden wird, und
— das natürliche Verbreitungsgebiet dieser Art weder abnimmt noch in absehbarer Zeit vermutlich abnehmen wird und
— ein genügend großer Lebensraum vorhanden ist und wahrscheinlich weiterhin vorhanden sein wird, um langfristig ein Überleben der Populationen dieser Art zu sichern.

Betrieb des Grundwasserwerks Lobau

Allgemeine Auswirkungen des GWW Lobau

Das Grundwasserwerk Lobau in der Unteren Lobau wird seit den 1960er Jahren – mit wechselnder Intensität – für die Trinkwasserversorgung Wiens genutzt. Betrieben werden heute insgesamt fünf Horizontalfilterbrunnen, von denen sich zwei bereits in Niederösterreich befinden. Zweifellos hat die Entnahme von Grundwasser in einer grundwassergespeisten, vom Hauptstrom abgeschnittenen ehemaligen Flussau an sich nachträgliche Auswirkungen auf den Wasserhaushalt. Das steht außer Frage und wird auch von der Stadt Wien nicht bestritten. Auf einer Webseite der Stadt Wien namens System von Begleitdämmen zum Donau-Hochwasserschutz heißt es (Hervorhebungen von mir):

Durch das Ausbleiben großflächiger Überflutungen und Durchströmungen kam es zu einer Senkung des Grundwasserspiegels. Das Wachstum von Wasser- und Sumpfpflanzen hatte eine Verringerung der freien Wasserfläche (Verlandung) zur Folge. Verschärft wurde die Lage durch die Wasserentnahme von Industrie und Landwirtschaft sowie durch die Trinkwasserentnahme des Grundwasserwerkes Lobau.

Dazu kommen Maßnahmen, die in den 1990er Jahren ergriffen wurden, um eine Verschmutzung des Grundwassers durch Altlasten zu verhindern, insbesondere die Errichtung von Sperrbrunnenreihen. Diese Altlasten waren Folge der Bombardierung des stromaufwärts der Unteren Lobau befindlichen Tanklagers durch die Alliierten im Zweiten Weltkrieg. Diese Sperrbrunnen “entwässerten” nicht nur die Obere Lobau, sondern beeinträchtigten bzw. beeinträchtigen nach wie vor den Grundwasserstrom in die Untere Lobau (siehe u.a. Wasserentzug durch unnötige Sperrbrunnen).

Ob die genannten Auswirkungen des GWW Lobau bereits einen Verstoß gegen das Verschlechterungsverbot der FFH darstellen, ist allerdings nachrangig. Denn als Hauptproblem hat sich herausgestellt, dass das GWW Lobau lediglich mit einer Desinfektionsanlage ausgestattet ist.

Betrieb des Grundwasserwerks Lobau offensichtlich FFH-widrig

Auf Basis der Rechtsprechung des EuGH bestehen kaum Zweifel daran, dass der Betrieb des GWW Lobau in der Unteren Lobau gegen das Verschlechterungsverbot der FFH verstößt. Das Werk ist nämlich nur mit einer Desinfektionsanlage ausgestattet. Wie die bereits erwähnte, von Wien beauftragte Studie (Magistrat der Stadt Wien, Magistratsabteilung 45 – Wiener Gewässer: Gewässervernetzung (Neue) Donau – Untere Lobau (Nationalpark Donau-Auen). Endbericht, Juni 2015) ebenfalls ergab, könnten jedoch selbst geringfügige Wasserzufuhren (Dotationen) in die Untere Lobau eine Verschlechterung der Qualität des Grundwassers bewirken, insbesondere durch eine Verkürzung der Fließzeiten des Grundwassers bis zu den Brunnen.

Diese Verschlechterung könnte zur Folge haben, dass das geförderte Grundwasser trotz Desinfektion nicht mehr die wasserrechtlich festgelegten Voraussetzungen für eine reguläre Einspeisung ins Trinkwassernetz erfüllt (unbeschadet reduzierter Anforderungen im Fall von Versorgungsengpässen). Aus diesem Grund hat die Stadt Wien seit Vorliegen des Endberichts der erwähnten Studie jedwede Dotationen der Unteren Lobau kategorisch ausgeschlossen.

Technisch gesehen dürfte es allerdings kein Problem sein, zumindest die Folgen der in der Studie der Magistratsabteilung 45 betrachteten Dotationsvarianten (von wenigen Kubikmetern pro Sekunde bis zu 80 m³/s aus der Donau) mittels Aufbereitung zu kompensieren. Eine Wiederanbindung der Unteren Lobau an die Donau inklusive durchströmende Hochwasserwellen wurde in der Studie nicht untersucht/modelliert.

Aber die Stadt weigert sich ebenso kategorisch, das GWW Lobau mit einer Aufbereitungsanlage auszustatten – mit dem Argument “nicht darstellbarer” Kosten. Besonders vehement bekräftigte das Umweltstadtrat Jürgen Czernohorszky im Landtag Ende 2020: “Ich möchte das deutlich sagen: Eine Trinkwasseraufbereitung wäre aktuell völlig undarstellbar, wirtschaftlich. Kein Rechnungshof der Republik, ob Stadtrechnungshof oder Bundesrechnungshof würde solche Kosten auch nur entfernt akzeptieren können.”. (Siehe Landtag, 2. Sitzung vom 17.12.2020, Wörtliches Protokoll – Seite 12 von 30.)

Kostenargumente irrelevant. Im Naturschutzrecht spielen die Kosten von Erhaltungsmaßnahmen oder gar ihre “Wirtschaftlichkeit” jedoch keine Rolle. Erhaltungsmaßnahmen, soweit erforderlich, sind zu ergreifen, Punkt. Das gilt auch für eine Aufbereitungsanlage, wenn ein Schutzgebiet wie die Untere Lobau anders nicht zu bewahren ist. Sollte sich diese Tatsache im Rathaus noch nicht herumgesprochen haben, wäre es ein Armutszeugnis. Andernfalls handelt es sich um eine bewusste Irreführung der Öffentlichkeit.

Auch Augebiet in Niederösterreich betroffen. Faktisch sind damit alle effektiven Erhaltungsmaßnahmen für die Untere Lobau blockiert, obwohl Wien aufgrund der Vorgaben der FFH dazu verpflichtet ist. Die negativen Auswirkungen des Betriebs des GWW Lobau nur mit Desinfektion beschränken sich außerdem nicht auf den Wiener Teil des Nationalparks Donau-Auen, sondern erstrecken sich auch auf mehrere Quadratkilometer des Nationalparks Donau-Auen in Niederösterreich, von der Grenze zu Wien bis zum Ende des Gewässerzugs der Unteren Lobau beim Schönauer Schlitz.

Verträglichkeitsprüfung auch für früher genehmigte Nutzungen erforderlich

Dass der aktuelle Betrieb des GWW Lobau daher nicht FFH-konform sein kann, ist offensichtlich. Es gibt aber bereits einschlägige Entscheidungen des EuGH, ursprünglich in der Rechtssache C-226/08, Urteil vom 14. Januar 2010.

In diesem Verfahren hat der EuGH festgestellt, dass Aktivitäten/Nutzungen, die vor Ablauf der Umsetzungsfrist der Habitatrichtlinie genehmigt wurden (wie etwa das Grundwasserwerk Lobau, mit Bewilligungen, die auf die 1960er Jahre zurückgehen), zwar im Unterschied zu neuen Projekten nicht einer “Ex-ante-Prüfung” gemäß Art. 6 (3) FFH unterliegen – das ist die erforderliche Prüfung von Projekten auf Verträglichkeit mit den für das jeweilige Schutzgebiet festgelegten Erhaltungszielen. Sie können aber dennoch unter das Verschlechterungsverbot in Art. 6 (2) FFH fallen, nämlich dann, wenn sie sich nachteilig auf das Schutzgebiet auswirken – siehe Punkte 48 und 49 der Rechtssache. Es gibt also keinen automatischen “Bestandsschutz” für bereits früher genehmigte Aktivitäten/Nutzungen. Auch diese sind im Rahmen eines Verfahrens gemäß Art. 6 (3) FFH auf Vereinbarkeit mit den Erhaltungszielen zu prüfen.

Diese Feststellung wurde in der Rechtssache C-404/09 vom 24. November 2011 bekräftigt. Das Urteil fiel in einem Verfahren der EU-Kommission gegen Spanien in Zusammenhang mit Kohlegruben im Schutzgebiet „Alto Sil“ im Nordwesten der spanischen Region Kastilien-León, die zum Teil schon betrieben wurden, bevor Alto Sil als “Gebiet von gemeinschaftlicher Bedeutung” ausgewiesen wurde – Details siehe die Punkte 172-197 des Urteils. Auch der Weiterbetrieb der bereits schon vor Ausweisung des Schutzgebiets betriebenen Tagebauprojekte stellte einen Verstoß gegen die Verpflichtungen aus Art. 6 Abs. 2 bis 4 in Verbindung mit Art. 7 der Habitatrichtlinie dar, so der EuGH.

In dem bereits oben zitierten FAQ-Dokument der EU-Kommission (nur mehr im Webarchiv aufzufinden) wird das so zusammengefasst:

“Die Vorschrift gilt auch für Aktivitäten, die bereits durchgeführt wurden, bevor das Gebiet in das Natura-2000-Netz aufgenommen wurde. Entsprechend müssen auch laufende Aktivitäten, die sich nachteilig auf das Gebiet auswirken, verboten oder geändert werden (EuGH, Rechtssache C-404/09).” Link: Was bedeutet das Verschlechterungsprinzip in der Praxis? (Webarchiv)

Ein Überprüfungsverfahren gemäß Art. 6 (3) FFH wäre im Fall des Grundwasserwerks Lobau idealerweise durchzuführen gewesen, bevor der Wiener Teil des Nationalparks Donau-Auen samt Unterer Lobau zum Natura-2000-Gebiet und zum Europaschutzgebiet erklärt wurde (2007). Bis dato – August 2024 – hat ein solches Verfahren aber nicht stattgefunden.

Verträglichkeitsprüfung GWW Lobau: Ausnahmegenehmigung undenkbar

In einem solchen Verfahren hätte sich nicht zuletzt auf Basis der Ergebnisse der von Wien beauftragten Studie (Endbericht, Juni 2015) herausgestellt, dass der Betrieb des GWW Lobau nur mit Desinfektionsanlage geradezu fatale Auswirkungen auf das Schutzgebiet hat, indem effektive Erhaltungsmaßnahmen praktisch verunmöglicht werden. Die Verträglichkeitsprüfung würde also negativ ausfallen.

Daher wäre zu prüfen, ob für diese Aktivitäten (Betrieb des GWW Lobau ohne Desinfektionsanlage) eine Ausnahme gewährt werden kann, und zwar gemäß Art. 6 Abs. (4) entweder “aus zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Art” oder im Fall prioritärer Habitate und/oder Arten im Wesentlichen “aus Erwägungen im Zusammenhang mit der Gesundheit des Menschen und der öffentlichen Sicherheit”. Voraussetzung ist in beiden Fällen, dass die betreffenden Aktivitäten alternativlos sind – es darf keine “Alternativlösung” vorhanden sein. Sofern die eine oder die andere Bedingung erfüllt ist, wären jedenfalls die erforderlichen Ausgleichsmaßnahmen durchzuführen.

“Art. 6 (4): Ist trotz negativer Ergebnisse der Verträglichkeitsprüfung aus zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Art ein Plan oder Projekt durchzuführen und ist eine Alternativlösung nicht vorhanden, so ergreift der Mitgliedstaat alle notwendigen Ausgleichsmaßnahmen, um sicherzustellen, dass die globale Kohärenz von Natura 2000 geschützt ist. Der Mitgliedstaat unterrichtet die Kommission über die von ihm ergriffenen Ausgleichsmaßnahmen.”

Im Wiener Teil des Nationalparks Donau-Auen existiert zwar zumindest eine “prioritäre Art”, der Nachtfalter Euplagia quadripunctaria, “Russischer Bär”, weshalb für Ausnahmen sogar nur “Erwägungen im Zusammenhang mit der Gesundheit des Menschen und der öffentlichen Sicherheit oder im Zusammenhang mit maßgeblichen günstigen Auswirkungen für die Umwelt oder, nach Stellungnahme der Kommission, andere zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses geltend gemacht werden” könnten.

Aber bereits die weniger strenge Bedingung “aus zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Art” dürfte im Fall des GWW Lobau nicht erfüllt sein, denn ungeachtet der Frage, ob das GWW Lobau für die Sicherheit der Trinkwasserversorgung Wiens essenziell ist oder nicht, existiert ja eine “Alternativlösung” – die Ausstattung des Werks mit einer Aufbereitungsanlage. Selbst wenn Wien die Existenz dieser Alternative, gestützt auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip, mit dem Argument “unverhältnismäßiger” Kosten mit Erfolg bestreiten könnte, wären dennoch „alle notwendigen Ausgleichsmaßnahmen“ zu ergreifen.

Maßnahmen, die den langfristigen Verlust der geschützten Lebensräume und Arten der Unteren Lobau “ausgleichen” könnten, sind jedoch praktisch unmöglich. Kann ein Schutzgebiet nicht erhalten werden, könnten nach Auffassung der EU-Kommission Ausgleichsmaßnahmen darin bestehen, andernorts mit dem ursprünglichen Schutzgebiet vergleichbare Lebensräume zu schaffen. Doch die Reste der Donau-Auen in Wien und stromabwärts in Niederösterreich sind einzigartig in Mitteleuropa; Wien kann weder auf eigenem Gebiet noch anderswo ein weiteres Donau-Augebiet aus dem Boden stampfen.

Kein Ausweg aus dem Dilemma für Wien

Es spricht alles dafür, dass Wien, käme es zu einer Klage der EU-Kommission gegen Österreich wegen einer Verletzung des Verschlechterungsverbots der FFH in Zusammenhang mit der Unteren Lobau, das Nachsehen haben dürfte. Wien würde daher wohl gezwungen werden können, die nötige Aufbereitungsanlage für das GWW Lobau zu errichten.

Eine andere Option hat Wien im Rahmen des Naturschutzrechts übrigens nicht mehr. Es hilft nicht einmal, das Schutzgebiet so weit “verlottern” zu lassen, bis seine Schutzwürdigkeit ernsthaft in Frage gestellt ist. Denn wie der EuGH in einer Entscheidung bestätigt hat (Urteil des EuGH vom 3.4.2014 – C-301/12 – „Tre Pini“), kann ein Mitgliedsstaat der Kommission nur dann die Aufhebung der Klassifizierung eines Gebiets (als Natura-2000-Gebiet) vorschlagen, wenn dieses Gebiet “trotz der Beachtung” der FFH-Bestimmungen endgültig nicht mehr geeignet ist, die Ziele der FFH-Richtlinie zu erfüllen, so dass seine Klassifizierung als Gebiet von gemeinschaftlicher Bedeutung nicht mehr gerechtfertigt erscheint.

Unterlassungshandlungen des Mitgliedsstaats, wie sie die Stadt Wien im Fall der Unteren Lobau zu verantworten hat, rechtfertigen eine solche Aufhebung des Schutzstatus jedenfalls nicht. Wien hat also keine Chance, sich den Verpflichtungen aus der FFH zu entziehen, außer Österreich verlässt die EU oder die EU löst sich auf. (Siehe eine Erörterung des Themas unter Europaschutzgebiete – Unter welchen Voraussetzungen ist ein Schutzgebietsstatus abzuerkennen?.)

Die einzige Chance, die Wien hatte, wurde bereits verpasst: Wien hätte bei der Erklärung des Gebiets zum Nationalpark sowie in der Folge zum Natura-2000- und Europaschutzgebiet (2007) das Gebiet der Unteren Lobau nicht einschließen dürfen. Ebenso hätte Niederösterreich den Bereich des heutigen Nationalparks Donau-Auen zwischen der Landesgrenze zu Wien (Westen), Schönauer Rückstaudamm (Norden), Marchfeldschutzdamm (Süden) und Schönauer Schlitz (Osten) vorsorglich ausnehmen müssen, da Niederösterreich keine Möglichkeit hat, die für diesen Bereich erforderlichen Erhaltungsmaßnahmen zu ergreifen.

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